Bilderbücher in der Grundschule? Wie Sie mit dem Bilderbuch neue Lernräume öffnen
Christine Hagemann
Bilderbücher gibt es wohl in jedem Kinderzimmer, zum Vorlesen und Zeitvertreib. Bunte Bilder regen die Fantasie an. Doch als Medium schulischer Bildung wird das Bilderbuch oft unterschätzt.
Das Bilderbuch ist fester Bestandteil der Kinderliteratur, allerdings überwiegend für unsere Jüngsten. Im Kindergarten gehören Bilderbücher und Vorlesen zusammen. Doch sobald die Kinder selber lesen lernen, ist es damit meist schnell vorbei. Dann dienen die Bilder im Text bloß noch als Illustration. Schade eigentlich, finden Bildungsforscher, denn das Bilderbuch kann so viel mehr.
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Gerade im schulischen Bereich lassen sich Bilderbücher sehr sinnvoll einsetzen. Hier lohnt sich ein genauer Blick. Lesen Sie im Folgenden, wie Sie Bilderbücher in Ihrem Unterricht sinnvoll nutzen.
Betrachten Sie das Bilderbuch neu und entdecken Sie sein enormes Potenzial für ganzheitliches Lernen in der Grundschule.
Inhalt
1. Was ist überhaupt ein gutes Bilderbuch?
2. Darum sind Bilderbücher für Grundschulkinder so wertvoll
3. Wie finde ich geeignete Bilderbücher?
3.1. Diese 5 Überlegungen sollten Ihre Wahl bestimmen
3.2. Worauf es ankommt: Die Beziehung von Bild & Text
3.3. Darin liegt der besondere Reiz des Bilderbuchs
Darum sind Bilderbücher für Grundschulkinder so wertvoll
Im Grundschulalter sind die meisten Kinder bereits mit dem Medium Bilderbuch vertraut, sodass ihnen der Zugang leichtfällt. Die erzählte Geschichte lebt durch die Wechselwirkung von Bild und Text. Besonders vorteilhaft: Visuelle Anreize wecken das Interesse an der Geschichte auch bei Kindern, die ansonsten nicht gerne lesen.
Die Sprache der Bilder wird erst durch genaues Beobachten entschlüsselt, daher schult das Bilderbuch die Aufmerksamkeit und bewusstes Wahrnehmen. Anhand der Bilderfolge lernen die Kinder, Handlungsabläufe besser zu verstehen und eigene Lösungswege zu entwickeln.
Die Bilder können berühren, Erinnerungen auslösen, Fragen aufwerfen, zum Nachdenken anregen und neue Sinnzusammenhänge herstellen. Die Kinder werden achtsamer für sich selbst und andere. Auf diese Weise fördern Bilderbücher das emotionale Verstehen und unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung.
Wie finde ich geeignete Bilderbücher?
Das Angebot an Bilderbüchern in der Abteilung Kinderliteratur scheint schier unendlich, auch für das Alter von 6 bis 10 Jahren. Bei der Auswahl achten Sie sicherlich auf die Themengestaltung, letztlich gibt meist der ganz persönliche Geschmack den Ausschlag. Aus pädagogischer Sicht geben Fachleute wichtige Hinweise, die Ihnen bei der Unterrichtsplanung nützen. Im Folgenden haben wir für Sie einige Kriterien zusammengestellt.
Diese 5 Überlegungen sollten Ihre Wahl bestimmen:
- Zunächst entscheiden Sie, über welches Thema Sie mit Ihren Kindern ins Gespräch kommen möchten. Das Bilderbuch vermittelt Texte aus vielen verschiedenen Genres, beispielsweise Märchen, Abenteuer, Fantasy, Sachtexte oder Poesie.
- Bilderbücher können realistische oder fiktive, unterhaltsame oder problemorientierte Geschichten zu unterschiedlichsten Themen enthalten. Eine Vermischung der Kategorien sollten Sie allerdings vermeiden.
- Ob spannend, nachdenklich oder komisch – es kommt immer darauf an, dass der Inhalt an die Lebenswirklichkeit der Kinder anknüpft und Identifikation ermöglicht. Dabei haben Rollenklischees und stereotype Vorurteile im modernen Bilderbuch selbstverständlich nichts zu suchen.
- Erzählende Bilderbücher für Grundschulkinder sollten eine lineare Erzählweise haben. Hierbei folgt das Geschehen einem zeitlichen Nacheinander, sodass die Geschichte sich ohne Vor- oder Rückblenden erzählen lässt.
- Beachten Sie die Trennung von Sachinformationen und Fiktion. Hierbei spielt die Bildgestaltung eine wichtige Rolle, denn auch die Bilder vermitteln Inhalte und tragen entscheidend zur Themengestaltung bei.
Worauf es ankommt: Die Beziehung von Bild & Text
Rein formal betrachtet darf der Text nicht über die Bilder dominieren. Das Gleiche gilt für die inhaltliche Gewichtung von Bildern und Text. Dazu gibt es zwei verschiedene Ansätze:
Variante 1 – Die Bilder illustrieren den Erzähltext.
Variante 2 – Der Text kommentiert die Bilder.
Charakteristisch für das Bilderbuch ist die Wechselwirkung zwischen Bild und Text. Die Besonderheit besteht in der Kombination aus bildlichen und verbalen Codes, die in Beziehung zueinander stehen. Somit fungiert der Text nie nur als Beiwerk zu den Bildern. Beide Erzählmittel sind gleichberechtigt.
Darin liegt der besondere Reiz des Bilderbuchs
Im Bilderbuch erfolgt der Informationsfluss nicht ausschließlich schriftsprachlich, sondern verteilt sich auf Bild und Schriftzug. Die Geschichte wird von Bild und Text gemeinsam erzählt, jede Ebene treibt die Geschichte auf ihre Weise voran. Der besondere Reiz des Bilderbuchs besteht darin, dass beim Betrachten und Lesen unterschiedliche Wege der Informationsverarbeitung stimuliert werden:
- Bilder nehmen wir spontan als Ganzes wahr. Ihre Aussage wirkt unmittelbar, erst danach erfassen wir ihre Einzelheiten in Teilen. Diese Wirkrichtung nennt man Top-down.
- Schrifttexte erfassen wir sukzessiv vom Teil zum Ganzen. Dies Verfahren nennt man Bottom-up. Die Aussage eines Satzes erschließt sich somit erst durch Verstehen im Zusammenhang.
Da Bilder und Textsprache auf verschiedene Weise erzählen, erweist sich das Bilderbuch als ein sehr anspruchsvolles Erzählmedium. Beide Elemente ergänzen sich in ihrer Wirkungsweise. Bilder- und Textschiene können dabei parallel verlaufen oder miteinander verflochten sein. Oder sie stehen in einem Spannungsverhältnis, oft mit dem Ziel, Komik zu erzeugen.
Für den Lesegenuss ist somit nicht nur die Lesekompetenz auf der Wort-, Satz- und Textebene gefragt, auch die Sprache der Bilder muss entschlüsselt werden. Das ist oft gar nicht so einfach. Denn Bilder sind keineswegs immer leichter verständlich als Schrifttexte.
Wichtig: Bilder sind zwar prinzipiell eingängiger als Schrift, aber gerade das kann zu falschen Deutungen führen. Oft betrachten wir Bilder nur oberflächlich, weil wir meinen, sie assoziativ richtig zu verstehen. Doch auch beim Dekodieren von Bildsprache ist das individuelle Vorwissen entscheidend. Nicht alle Bildzeichen sind universell verstehbar, manche lassen sich nur aus dem jeweiligen soziokulturellen Kontext heraus erschließen.
Für die Praxis: Fünf Dimensionen der Bilderbuchanalyse
Haben Sie ein Bilderbuch gefunden, über das Sie mit Ihren Kindern sprechen möchten, starten Sie mit Ihren Vorbereitungen. Dafür gibt es mehrere Modelle, die sich mit den Bild-Schrifttext-Kombinationen auseinandersetzen. Im Folgenden stellen wir ein praktikables Modell vor, das der Literaturwissenschaftler Michael Staiger für die Bilderbuchanalyse entwickelt hat.
Jede der fünf Dimensionen kann für sich betrachtet werden, doch jeder einzelne Aspekt steht in einem Zusammenhang zum Gesamten. Diese Fragen stellen Sie an das Bilderbuch:
- Narrative Dimension:
Was wird erzählt?
- Thematik, Motive
- Geschehnisse, Figuren
- Raum, Zeit
Wie wird erzählt?
- Erzählperspektive, Erzählweise
- erzählte Zeit, Erzählzeit
- Erzählebenen
- Verbale Dimension:
Wie ist die textsprachliche Gestaltung?
- Wortwahl
- Satzbau
- Textgestaltung
- Bildliche Dimension:
Wie ist die visuelle Gestaltung?
- Linie, Farbe, Raum, Perspektive
- Technik, Stil, Komposition
- Typographie
- Intermodale Dimension:
In welchem Verhältnis stehen Bild und Schrifttext?
- Gewichtung
- Beziehung
- mögliche Widersprüche
- Materielle Dimension:
Wie tritt das Bilderbuch auf?
- Buchformat, Seiten
- Cover, Titel
- Haptik, Papiersorte, Bindung
Um die Analyse zu erleichtern, betrachten Sie die bildlichen und verbalen Codes im ersten Schritt getrennt. Bestimmte Aspekte treten dabei stärker hervor als andere. Im Anschluss daran sollten Sie jedoch den Blick auf das Gesamte richten, auf das Bild im Zusammenhang mit dem Schrifttext und umgekehrt.
So setzen Sie das Bilderbuch im Unterricht ein
Schaffen Sie eine angenehme Gesprächsatmosphäre. Am besten präsentieren Sie das Bilderbuch, indem Sie die einzelnen Seiten z. B. mit einer Dokumentenkamera oder einem Beamer auf eine weiße Wand oder ein Whiteboard projizieren. Die vergrößerte Darstellung lässt die Bilder zusätzlich fesselnd wirken.
Zum Vorlesen bietet sich als Methode das Bilderbuchkino an, wobei die Kinder im Halbkreis sitzen. Dafür ist sich auch das Kamishibai sehr gut geeignet. So schauen die Kinder das Bild an und hören gleichzeitig dem Text zu. Und Sie können sich ganz auf das Vorlesen konzentrieren und müssen nicht nach jeder Seite das Buch umdrehen, damit die Kinder das Bild sehen können. Möchten Sie mehr über den Zauber des Erzähltheaters Kamishibai erfahren? Lesen Sie gern unseren Blog-Beitrag »Kamishibai: Türen auf fürs freie Erzählen im Kindergarten und in der Grundschule«.
Um die Vorstellungsbildung der Kinder anzuregen, empfiehlt es sich, zunächst das Bild zur freien Assoziation anzubieten. Danach lesen Sie den zugehörigen Text vor. Im Anschluss daran können Sie das Gespräch durch Impulsfragen modellieren. Dies bewirkt ein langsames, aufmerksames Sehen, aktiviert innere Bilder und regt zum Nachdenken über die eigenen Gefühle an.
Beim Betrachten unterstützen Sie die Kinder durch diese drei Leitfragen:
- Was sehe ich?
- Was könnte es bedeuten?
- Wie wirkt es auf mich?
Anschließend findet die Gesprächsrunde über den Inhalt der Bildergeschichte statt. Im offenen Gespräch entdecken die Kinder zunehmend den Sinn der Geschichte. Sie verbinden ihr Vorwissen und die Bildangebote mit persönlichen Erfahrungen und eigenen inneren Bildern.
Während des Gesprächs sollten Sie die Aussagen der Kinder bündeln und Bezüge zu ihrem Erfahrungswissen anregen. Lenken Sie den Blick dabei immer wieder auf die Bildergeschichte. Nach und nach entsteht eine gemeinsame Interpretation, zu der alle etwas beigetragen haben. Diese Deutungen dürfen unvollständig bleiben. Ziel des literarischen Gesprächs ist schließlich kein fertiges Ergebnis, sondern die gemeinsame Sinnsuche.
Um die Thematik zu vertiefen, gibt es verschiedene Anschlussmöglichkeiten. Die folgenden Beispiele animieren die Kinder zur kreativen Beschäftigung mit der Bildergeschichte:
- Lesen mit verteilten Rollen: Die Kinder lesen die Geschichte laut vor, dabei schlüpfen sie in die Rollen der dargestellten Figuren.
- Schreibanlass mit Perspektivwechsel: Jedes Kind wählt eine Figur aus dem Buch und schreibt aus deren Sicht einen Brief an eine andere Figur.
- Erfinden einer Fortsetzung: Die Kinder denken sich aus, wie die Geschichte wohl weitergeht. Hierbei können sie schriftlich, künstlerisch oder im Rollenspiel aktiv werden.
- Entdecken von bildlichen oder textlichen Leerstellen: Die Kinder ergründen offene Fragen, indem sie eigene Ideen einbringen und kreativ umsetzen.
Tipp: Die fantastische Welt der Bilderbücher eröffnet neue Sinnesräume und bietet tolle Anlässe für gemeinsame Nachdenkgespräche. Das ermutigt Kinder, eigene Geschichten zu erzählen. Lesen Sie mehr dazu in unserem Beitrag »Die Zauberkraft der analogen Medien: So macht Geschichten-Erzählen Kinder stark.«
Kamishibai-Erzähltheater
Beamer Vivitek DH278-EDU
IPEVO VZ-R Dokumentenkamera
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Lesen lernen
Sprachförderung
Lesestoff:
Ingrid Hintz: Was? Warum? Wie? Zum Umgang mit Bilderbüchern im Unterricht. In: Grundschulunterricht. Deutsch, 55/3, 2008, S. 19 – 23.
Iris Kruse, Andrea Sabisch (Hrsg.): Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel – Denkspiele – Bildungspotenziale. München: kopaed 2013.
Jens Thiele: Neue Impulse der Bilderbuchforschung. Baltmannsweiler: Schneider 2007.
Jens Thiele, Sabine Wallach (Hrsg): Verborgene Kindheiten. Soziale und emotionale Probleme in der Kinderliteratur. Oldenburg: BIS Verlag 2007.
Alexandra Ritter: Bilderbuchlesarten von Kindern. Neue Erzählformen im Spannungsfeld von kindlicher Rezeption und Produktion. Baltmannsweiler: Schneider 2014.
Michael Staiger: Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensionales Modell der Bilderbuchanalyse. In: Julia Knopf, Ulf Abraham (Hrsg.): BilderBücher. Band 1,Theorie. Baltmannsweiler: Schneider 2014.
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