Armutssensibles Handeln: Mit diesen Tipps ermöglichen Sie allen Kindern Teilhabe
Elisa Morel
Fast 14 Millionen Menschen in Deutschland gelten als arm, und sowohl Alleinerziehende als auch Familien mit drei und mehr Kindern sind besonders häufig betroffen. Folglich gibt es in (fast) jeder Kita armutsbetroffene Kinder, die täglich vor einer Menge Herausforderungen stehen.
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In diesem Beitrag erfahren Sie, wie vielschichtig Armut in Deutschland daherkommt, wie Sie armutssensibles Handeln in Ihrer Einrichtung praktisch umsetzen und was Sie unternehmen können, um benachteiligten Kindern zu mehr Teilhabe zu verhelfen.
Inhalt
1. Armut und Kinderarmut in Deutschland
2. 6 Grundsätze für armutssensibles Handeln
2.1. (Kinder-)Armut und Vorurteile
2.2. (Kinder-)Armut und Benachteiligung
2.3. (Kinder-)Armut und ihre Folgen
3. Armutssensibles Handeln im Kita-Alltag
3.1. Wo Geld in der Kita eine Rolle spielt
3.2. Praktische Tipps für armutssensibles Handeln in der Kita
3.3. Best practice: Zukunft früh sichern aus Gelsenkirchen
Info: Für das Jahr 2023 gibt Statista übrigens für Deutschland eine Armutsgefährdungsquote von 14,4 % an. Der Durchschnitt der EU liegt bei 16,2 %. Trauriger Spitzenreiter ist Estland mit 22,5 %, fröhliches Schlusslicht Tschechien mit 9,8 %.
Absolute vs. relative Armut
Absolute Armut bedeutet, maximal 1,90 Dollar täglich zur Verfügung zu haben. 1,2 Milliarden Menschen weltweit leben in absoluter Armut, besitzen oft kein Bargeld und schlagen sich mit mageren Felderträgen, Müllsammeln etc. durch.
In Deutschland ist niemand von absoluter Armut betroffen.
Relative Armut existiert auch in Wohlstandsgesellschaften wie Deutschland. Wer über weniger Geld als 60 % des monatlichen Durchschnittseinkommens verfügt, gilt laut EU als armutsgefährdet. Bezogen auf zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bedeutet das, von monatlich weniger als 2.035 € zu leben (Mikrozensus 2016).
Aus diesem Umstand resultiert soziale Ungleichheit. Armutsgefährdete oder -betroffene Personen haben weniger Teilhabe: kein Auto, kein Geld für Kultur, Vereine oder Urlaub, Internetanschluss oder neuwertige Kleidung. Dafür haben sie mehr Sorgen.
Für die meisten armutsbetroffenen Menschen ist nicht unbedingt die Armut selbst die größte Belastung, sondern die finanzielle Unsicherheit: Wann kommt die nächste Rechnung, die nächste unvorhergesehene Ausgabe? Wie kann ich diesen Betrag stemmen, welche unangenehmen Gespräche stehen mir bevor, auf welche Vorurteile treffe ich? Für Rücklagen fehlt den meisten armutsbetroffenen Menschen das Geld.
Neben Scham und Ohnmacht leiden Armutsbetroffene auch häufiger an Ängsten und erfahren soziale Isolation. Somit wirkt sich Armut negativ auf die (psychische) Gesundheit aus.
6 Grundsätze für armutssensibles Handeln
Armutssensibles Handeln beginnt bei Ihnen selbst – in Ihrem Kopf. Denn um sensibel auf Armutsbetroffenheit zu reagieren, braucht man zuerst einmal Wissen, Empathie und Reflexion.
Die folgenden sechs Tipps helfen Ihnen dabei, armutssensibel zu agieren:
- Informieren Sie sich über Armut
Wie entsteht sie, wer sind die Armen, welche Symptome und Folgen hat Armut?
- Reflektieren Sie Ihre eigenen (Vor-)Urteile
Deckt sich Ihre Meinung zu Armutsbetroffenheit mit den Fakten oder denken Sie in Schubladen? Mit Vorurteilen ist niemandem geholfen – erst recht nicht armutsbetroffenen Kindern.
- Bleiben Sie empathisch und wertschätzend
Es geht nicht um Schuld oder falsches Verhalten. Versetzen Sie sich in die Lage Armutsbetroffener und finden Sie einen Weg, um die Kinder und ihre Familien in ihrer angespannten finanziellen Lage zu unterstützen, indem Sie Geld eben nicht thematisieren oder voraussetzen, dass jeder schon ein paar Euro für einen selbst gebackenen Geburtstagskuchen und eine Matschhose übrig hat. Machen Sie stattdessen kostenlose Angebote, die allen mehr Teilhabe und neue Erfahrungen ermöglichen.
- Konzentrieren Sie sich auf das Positive
Welche Interessen und Talente haben die Kinder? Wie können Sie sie am effektivsten individuell fördern und dazu ermutigen, die eigenen Stärken zu entdecken?
- Identifizieren Sie Mechanismen von Stigmatisierung und Ausgrenzung und steuern Sie gegen
Auf welche Barrieren und Herausforderungen stoßen armutsbetroffene Menschen in ihrem Alltag? Wie können Sie ihnen dabei helfen, dass Armut in bestimmten Situationen keine Rolle spielt? Bemerken Sie abwertendes Verhalten anderer Kinder gegenüber armutsbetroffenen Kindern, müssen Sie selbstverständlich auch einschreiten und die Kleinen zu einem wertschätzenden Umgang miteinander anleiten. Denn wer selbst armutssensibel handelt, kann auch anderen dabei helfen, es zu lernen.
- Bleiben Sie aufmerksam für die Bedürfnisse der Eltern und Kinder
Hinterfragen Sie, warum die Eltern z. B. ein kostenloses Angebot nicht annehmen. Schämen sie sich, steckt Stolz oder eine Sprachbarriere dahinter, fürchten sie Stigmatisierung – oder hat die Mutter schlicht keine Zeit, weil sie zum Zeitpunkt des Elterncafés arbeiten muss? Nachdem Sie den Grund identifiziert haben, ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Lösung.Auch auffälliges Verhalten der Kinder hat immer einen Grund. Wer bei den Mahlzeiten schlingt, hat wahrscheinlich großen Hunger. Und wenn er oder sie dafür verspottet wird, verweigert das Kind vielleicht anschließend gemeinsame Mahlzeiten, isst heimlich oder steckt sich was für später ein – für sich selbst oder auch für Geschwistern und Eltern. Wenn ein Kind einen Gegenstand wie ein Spiel oder Kuscheltier „mitgehen“ lässt, besitzt es vielleicht zu Hause kein (tolles) Spielzeug und schämt sich, um Erlaubnis zu bitten, es übers Wochenende auszuleihen. In diesen Konflikt kommen Kinder nicht, wenn Sie in Ihrer Einrichtung einen Leih- oder Tauschschrank mit Spielen anbieten.
(Kinder-)Armut und Vorurteile
Wir Menschen sind schnell im Fällen von Urteilen über andere, wenn sie sich in einer Lebenssituation befinden, die nicht unserer eigenen entspricht. Wie die oben genannten Zahlen belegen, stimmen viele bekannte Armutsklischees nicht. Die Eltern von armen Kindern geben zumeist ihr Bürgergeld nicht für Alkohol und eigenes Vergnügen aus, essen am Monatsanfang nicht täglich in teuren Fastfoodketten und besitzen auch nicht die neuste Playstation, sondern sind alleinerziehend und oft in mehreren Jobs tätig, um über die Runden zu kommen.
Ganz plakativ: Arme Menschen sind weder faul noch dumm noch asozial. Sie haben schlicht zu wenig Geld, um ihren Kindern und sich selbst volle gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Den einen Typus armutsbetroffener Menschen gibt es sowieso nicht. Die Gründe für Armut sind vielfältig, die Ausprägungen und der Umgang damit individuell.
Oft sagt es sich außerdem in einer finanziell entspannten Situation leicht, dass die schlechter Gestellten „selbst schuld“ seien und man an deren Stelle ganz anders handeln, vielleicht gar nicht arm sein würde. Das kann sogar stimmen – auch wenn Dinge wie Rezession, Inflation und erhöhte Strompreise an niemandem von uns vorbeigehen. Mal ehrlich: Ein Zoo-, Restaurant- oder Kinobesuch mit zwei Kindern und zwei Erwachsenen ist wahrscheinlich finanziell den wenigsten Familien jedes Wochenende möglich, und auch die Mitgliedsbeiträge für Sportvereine und damit verbundene sonstige Anschaffungen können sich viele Eltern nicht leisten.
Doch das zählt eben u. a. zu gesellschaftlicher Teilhabe: Die Abwesenheit von Armut definiert sich nicht allein darüber, dass man satt, gebettet und gekleidet ist. Auch der kostenlose Museums- oder Büchereibesuch fällt vielleicht aus Zeitgründen flach, wenn die Eltern sich zwischen mehreren Jobs aufreiben.
Darüber hinaus ist jeder Mensch anders, und wir alle haben das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn Sie also in Ihrer Einrichtung ein Kind haben, das z. B. noch nie im Kino war und kein Fahrrad besitzt, dessen Familie aber dafür drei Katzen hat, dann ist das völlig in Ordnung. Denn wir wissen ja, wie förderlich der Umgang mit Tieren für die kindliche Entwicklung ist. Falls nicht, lesen Sie gern unseren Beitrag Haustiere, Erlebnisbauernhöfe, Zoobesuch: Warum der Umgang mit Tieren für Kinder wichtig ist.
Schließen Sie generell nicht von sich auf andere. Eltern, die nicht viel Geld zur Verfügung haben, müssen trotzdem nicht auf das eigene bisschen Luxus verzichten, solange die Grundversorgung des Kindes gewährleistet ist. Wenn eine alleinerziehende Mutter sich ab und zu eine Behandlung beim Frisör oder Kosmetiker gönnt, ist das ihr gutes Recht – auch wenn sie das Geld aus pädagogischer Sicht besser in Bildung investiert hätte.
Nehmen Sie die Gegebenheiten hin, solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist. Sie werden die finanzielle Situation der Erziehungsberechtigten in keinem Fall ändern können.
Natürlich steht es Ihnen trotzdem frei, alle (!) Eltern über die Vorteile einer gesunden Ernährung und ausreichend Bewegung für die Kinder zu informieren und Angebote zu entwickeln, an denen Eltern und Kinder kostenlos teilnehmen können, z. B. Turnnachmittage oder gemeinsames Kochen.
(Kinder-)Armut und Benachteiligung
Aufgrund beschränkter finanzieller Mittel haben Kinder vielleicht in ihrer Wohnung keine Rückzugsmöglichkeit oder mangelnde Spielmöglichkeiten, was zulasten der kindlichen Entwicklung geht. Diese Umstände können auch zu einer sozialen Benachteiligung führen, wenn die Kinder beispielsweise keine Freunde zum Spielen oder zu einer Geburtstagsfeier zu sich nach Hause einladen (wollen/dürfen).
Außerdem bedeutet Armut auch immer Verzicht und somit weniger Teilhabe. Armutsbetroffene Kinder machen weniger kulturelle Erfahrungen und erleben so oft auch weniger neue (An-)Reize. Vielleicht sind sie daran gewöhnt, ausschließlich in der eigenen Wohnung oder auf der angrenzenden Wiese zu spielen, kennen keine Sportgeräte, besitzen kein Fahrrad, besuchen keine Feste, Kinovorstellungen oder Sportveranstaltungen, sind nicht Mitglied in einem Verein.
Sie sehen allgemein wenig Neues außerhalb ihres Wohnumfelds. Manche verlassen ihren Stadtteil oder ihre Stadt selten bis gar nicht. Diese Reizarmut ist natürlich nicht förderlich für die kindliche Entwicklung und kann erneut zu Ausgrenzung führen, wenn andere Kinder bemerken und abfällig kommentieren, was der/die andere alles nicht hat oder kennt.
Auch die körperliche Gesundheit kann unter Armut leiden. Wer ungesund isst, sich nicht ausreichend bewegt oder selten an die frische Luft geht, neigt vielleicht zu Übergewicht, hat ein schlechteres Immunsystem oder ist in seiner motorischen Entwicklung beeinträchtigt.
Gleichzeitig spüren armutsbetroffene Kinder natürlich auch, dass ihre Eltern Sorgen oder generell wenig Zeit für sie haben, was sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. Die folgende Grafik gibt einen groben Überblick über die vier Ebenen des Lebenslagenansatzes für armutsbetroffene Kinder.
Aus der Beurteilung der vier Dimensionen ergibt sich eine von drei Lebenslagen:
- Wohlergehen: Dem Kind geht es in allen Bereichen gut, das Kindeswohl ist nicht gefährdet.
- Benachteiligung: Das Kind ist in einigen Bereichen in seiner Entwicklung benachteiligt/eingeschränkt.
- Multiple Deprivation: Dem Kind fehlen in mehreren fundamentalen Bereichen die notwendigen Ressourcen, sodass eine positive Entwicklung nicht wahrscheinlich ist.
Wenn anhand der Lebenslagenanalyse Auffälligkeiten festgestellt werden, definiert man im nächsten Schritt Maßnahmen, um den Benachteiligungen entgegenzuwirken. Dafür ist es hilfreich, auch die persönlichen Interessen, Fähigkeiten und Stärken des Kindes zu berücksichtigen.
Hat ein Kind beispielsweise keine kulturellen Erfahrungen und aufgrund seiner Ängstlichkeit kaum soziale Kontakte, dafür aber eine musikalische Affinität, kann das Erlernen eines Instruments beide Defizite mildern, während die neu erlernten Fähigkeiten und Erfolgserlebnisse außerdem dem Interesse und der Begabung des Kindes entsprechen.
Generell lohnt es sich, vor allem armutsbetroffene Kinder zu ermutigen, ihren Horizont zu erweitern. Wer keinen Abenteuerspielplatz kennt, kann sich nun mal nichts darunter vorstellen – und wird auf die Frage, was er am liebsten spielen oder machen möchte, wahrscheinlich eher bekannte Optionen nennen und Neues ablehnen. Das heißt aber nicht, dass die Kinder die neuen Erfahrungen nicht genießen und von ihnen profitieren – im Gegenteil.
(Kinder-)Armut und ihre Folgen
Je früher und umfänglicher die armutsbedingten Benachteiligungen ausgeglichen werden, desto besser – umso höher ist die Chance, dass die Kinder den Teufelskreis aus vererbter Armut, Stigmatisierung und Benachteiligung durchbrechen können.
Schon die Schwangerschaftsbegleitung wirkt sich positiv auf armutsbetroffene Kinder aus, da ihre Eltern so gestärkt werden: Sie haben einen Ansprechpartner für Fragen, bekommen Informationen über weitere Hilfsangebote und erfahren, dass sie Probleme – entgegen ihrer Meinung oder Erfahrung – bewältigen können. Im besten Fall haben sie also eine empathische, wertschätzende Begleitung, der sie vertrauen und sich öffnen. So erleben (werdende) Eltern Selbstwirksamkeit, stärken ihre Resilienz und schauen vielleicht hoffnungsvoller in die Zukunft.
Spätestens in der Kita muss die Armutsprävention einsetzen, deswegen ist es auch so wichtig, dass gerade armutsbetroffene Kinder einen Kita-Platz bekommen und die Kita regelmäßig besuchen.
Neben materiellen und gesundheitlichen Folgen wirkt sich Armut auch auf die Bildungschancen aus, beispielsweise durch Entwicklungsverzögerungen oder Diskriminierung seitens späterer Mitschüler und Lehrer, oder durch eine weiterhin bestehende und sich vielleicht noch verschlimmernde mangelnde soziale Teilhabe. Die Folge von schlechten Bildungschancen ist ein niedrigeres Qualifikationsniveau – also ein Risikofaktor für Armut. Davon abgesehen ist eine solche Vita natürlich nicht dafür prädestiniert, selbstbewusste, optimistische, tatkräftige Mitglieder unserer Gesellschaft hervorzubringen.
Wenn wir den Faden weiterspinnen, resultiert Armut langfristig in Desinteresse an Politik und Demokratie. So korreliert Armut mit geringerer Wahlbeteiligung – was nicht verwundern mag, wenn man jahrzehntelang Ohnmacht, Frustration und Sorgen erfahren hat und nicht daran glaubt, dass sich etwas ändern kann. Arme Eltern bekommen schließlich wieder arme Kinder – und alles beginnt von vorn.
Armutssensibles Handeln im Kita-Alltag
Regel Nummer 1: Informieren Sie sich. Nicht nur über Ursachen, Symptome und Folgen von Armut, sondern auch über die Gegebenheiten Ihres Einzugsgebiets. Wenn Sie ein grobes Profil der herrschenden Sozialstruktur vor Augen haben, sehen Sie vermutlich schnell einige lohnende Ansatzpunkte, um die Lebenssituation der Kinder zu verbessern.
Auch der Kontakt und Austausch mit armutsbetroffenen Eltern ist unerlässlich. Machen Sie sich also auch über Hilfsangebote schlau, die den Familien zugutekommen können. Viele Armutsbetroffene wissen entweder nicht, auf welche Formen von Unterstützung sie Anspruch haben, oder scheuen sich davor, sie einzufordern. Greifen Sie den Familien unter die Arme, um das Kindeswohl zu sichern und auch den Eltern einige Sorgen von den Schultern zu nehmen. Je besser Sie sich diesbezüglich mit anderen Institutionen vernetzen, umso besser für alle Beteiligten.
Entdecken Sie nachfolgend einige praktische Ansätze für Sie, um Ihren Kita-Alltag im Sinne armutssensiblen Handelns zu optimieren.
Wo Geld in der Kita eine Rolle spielt
Ohne Geld geht es nicht. Deshalb gibt es den Kindergartenbeitrag, den entweder die Eltern komplett oder teilweise zahlen oder der aus öffentlichen Geldern stammt – was nicht heißt, dass jede Familie, für die der Beitrag eine Belastung ist, finanzielle Unterstützung bekommt. Armutsbetroffene Kinder besuchen (daher) seltener und/oder kürzer eine Kita als Kinder aus wohlhabenderen Familien. Und dass, obwohl der frühe und regelmäßige Kita-Besuch essenziell ist, um Benachteiligungen auszugleichen, die durch Armut entstehen.
Doch auch jenseits der notwendigen Anschaffungen und Ausgaben in der Kita wie Möbel, Essen, Spiele oder Bau-, Bastel- und Malmaterial spielt Geld eine Rolle. Schon Kinder merken schnell, wenn jemand anders ist als sie selbst und z. B. keine moderne oder passende Kleidung trägt, nicht Roller fahren kann oder nie von Urlauben oder Ausflügen erzählt.
Genauso merken armutsbetroffene Kinder, dass sie anders sind. Sie lernen früh, sich zu schämen und ihre Lebensumstände zu verschleiern oder zu rechtfertigen, da sie entweder Anfeindungen befürchten oder ihnen bereits ausgesetzt sind.
Auch Kinder mit Fluchterfahrung mussten meistens nicht nur ihr gewohntes Umfeld, ihre Heimat und Sprache, Freunde und Verwandte hinter sich lassen, sondern auch ihren gewohnten Lebensstandard. Niemand, erst recht kein Kind, sucht sich ein Leben aus, das ihm weniger bietet, als er sich wünscht.
Sensibilisieren Sie Ihre Kinder daher für unterschiedliche Lebensumstände und beugen Sie Ausgrenzung vor. Machen materielle Dinge glücklich? Sagen sie etwas über den Charakter oder die Liebenswürdigkeit eines Menschen aus? Was ist wichtiger – eine Spielekonsole oder Gesundheit? Was braucht man wirklich zum Leben, und wie haben die Menschen früher gelebt, wie leben sie heute in anderen Ländern?
Praktische Tipps für armutssensibles Handeln in der Kita
Allgemein gilt: Keine Aktivität im Kindergarten sollte die Kinder bzw. ihre Erziehungsberechtigten etwas kosten. Jeder Euro ist zu viel oder schlicht nicht vorhanden, wenn eine Familie Geldsorgen hat. Deswegen gibt es auch nichts zu diskutieren; weder mit den Erziehungsberechtigten, die sich bestimmt auch eine andere Lebenssituation wünschen und sich vielleicht ihrer beschränkten Mittel schämen, und natürlich erst recht nicht mit den Kindern.
Analysieren Sie also gern im Team Ihre geplanten (Jahres-)Aktivitäten wie Feste, Projekte und Ausflüge, aber auch Anschaffungen wie Bastelmaterial und Wechselkleidung sowie Rituale, z. B. das gemeinsame Feiern von Kindergeburtstagen:
- Wo fallen Kosten an?
- Wie können die Kosten umgangen oder mindestens reduziert werden? Gibt es Alternativen zu geplanten Aktionen?
- Wer kann im Zweifel statt der Eltern für nötige Kosten aufkommen? Stehen kostenlose Kooperationspartner (Sportvereine, Musikschulen …), Sponsoren oder Fördermittel zur Verfügung?
- Kommen alternative Geldquellen infrage, z. B. ein Spendenlauf, ein Weihnachtsmarkt, ein Sommerfest?
Manchmal sieht man ja bekanntlich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Und nur, weil man etwas „schon immer so gemacht“ hat, bedeutet das nicht, dass Sie ausgetretene Pfade nicht auch verlassen können!
Lassen Sie sich gern durch die folgenden Tipps inspirieren, die viele Kitas bereits umsetzen:
- Sensibilisierung aller Kinder für einen respektvollen und empathischen Umgang mit Armutsbetroffenheit, z. B. anhand von Kinderbüchern oder einem Blick in andere Länder und Zeiten
- Einrichtung einer Tauschbörse/eines Tauschschranks für Kleidung, Spiele, Bücher
- Kindergeburtstage organisiert komplett die Kita, z. B. durch gemeinsames Backen, Singen, Spielen, dafür ohne Mitbringsel
- Kooperationen mit Musik- und Erlebnispädagogen oder auch anderen sozialen Einrichtungen
- Verzicht auf bloßstellende Situationen wie z. B. das Erzählen von Ferien- und Wochenenderlebnissen oder die Schilderung von Wünschen zu Weihnachten/Geburtstag usw. Fragen Sie beispielsweise stattdessen, was die Kinder am Wochenende oder in den Ferien besonders toll fanden. Achten Sie darauf, dass Erzählungen wie „Mama hatte nach drei Monaten endlich genug Geld, um mir X zu kaufen“ von den anderen Kindern nicht herabgesetzt werden.
Vielleicht entscheiden Sie sich alternativ auch dafür, dass die Kinder Geschichten erfinden (dürfen), um ihre Wunschvorstellungen zu verbalisieren – so bekommen Sie Einblicke in die Gefühle und Gedanken, die Ihnen vielleicht ansonsten verwehrt bleiben. Und damit es keine „Lügen“ sind, nutzen Sie gern ein Kuscheltier als Protagonisten, z. B. das Maskottchen Ihrer Gruppe, das auch in andere Aktivitäten eingebunden wird und die Erzählerrolle übernimmt.
- Naturtage etablieren, während derer die Kinder z. B. den Wald erkunden oder an einem Outdoor-Projekt arbeiten; mehr dazu finden Sie in unseren Beiträgen Natur als Entwicklungsraum und Ein Garten für den Kindergarten.
- das Sammeln von kostenlosem Mal- und Bastelmaterial wie Stoffresten, Verpackungen, Klorollen, Schraubgläsern etc. Ideen zum Thema Upcycling finden Sie auch in unserem Beitrag Upcycling für mehr Nachhaltigkeit: Basteln Sie mit Dingen, die nicht unbedingt Müll sind.
- kostenlose (mehrsprachige) Online-Angebote, z. B. das Vorlesen per Video oder Turn- und Yogakurse (vorausgesetzt, Ihre Kinder verfügen zu Hause über einen nutzbaren Internetanschluss)
- Angebote zur Resilienzförderung, Stressbewältigung und Mobbingprävention für Kinder (mehr dazu in unserem Beitrag Resilienz fördern: Wie Sie Ihren Kindern dabei helfen, psychische Widerstandskraft zu entwickeln)
- mehrsprachige Angebote für Eltern, z. B. zu Hilfsangeboten und Beratungen, und/oder die Einrichtung eines Elterncafés o. Ä.
- Einrichtung eines anonymen Hilfe- oder Kummerkastens für Eltern und/oder Kinder
Bestimmt fällt Ihnen noch mehr ein, denn jede Kita ist anders, hat individuelle Schwerpunkte und Herausforderungen, ein anderes Einzugsgebiet, unterschiedliche räumliche Gegebenheiten usw. Brainstormen Sie mit Ihrem Team, und beziehen Sie auch die Eltern ein.
Best practice: Zukunft früh sichern aus Gelsenkirchen
Abschließend noch ein kurzer Ausflug ins Ruhrgebiet, und zwar in die Stadt, die in so vielen Statistiken einen der letzten Plätze deutschlandweit belegt – zumindest, wenn es um positive Schlagworte geht: Gelsenkirchen.
In Ückendorf, dem in vielerlei Hinsicht problematischsten Stadtteil Gelsenkirchens (knapp 50 % der Kinder sind armutsbetroffen), startete im Frühling 2019 das durch die RAG-Stiftung geförderte Projekt „ZUSi – Zukunft früh sichern“ an sieben städtischen Kitas. Im Fokus steht eine armutssensible Frühförderung, die alle Kinder individuell fördert und sich dabei auf die Talente der Kinder konzentriert.
Dafür sind multiprofessionelle Teams im Einsatz, die von Bildungsbegleitern in ihrer täglichen Arbeit unterstützt werden. Zusätzlich gibt es Kooperationen mit der örtlichen Musikschule, Grundschulen, Sportvereinen, Künstlern, Theater, Erlebnispädagogen, dem Radclub NRW etc., sodass für jedes Kind bedarfsgerechte Angebote konzipiert und umgesetzt werden. ZUSi versteht sich somit als „Teil der Präventionskette gegen Kinderarmut“ und ist vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt a. M. seit seinem Start umfassend evaluiert worden.
ZUSi setzt an mehreren Ebenen an. Das Projekt setzt auf Elternarbeit (eigene ZUSi-App für die digitale Kommunikation inbegriffen) und Patenschaften, sensibilisiert die beteiligten Fachkräfte und vernetzt die Kitas mit verschiedenen Bildungseinrichtungen und -akteuren im Umfeld.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem gelungenen Übergang von der Kita in die Grundschule – auch dadurch, dass die Kinder und Eltern die Schule vorab besuchen und näher kennenlernen, aber auch durch übergreifende AGs und Bildungsdokumentationen.
ZUSi lief in Ückendorf von September 2019 bis Juni 2021 und fiel folglich in die Zeit der Corona-Pandemie samt all ihrer Beschränkungen. Trotzdem profitierten alle teilnehmenden Kinder von dem Projekt, vor allem in Fällen multipler Deprivation. In allen Bereichen verbesserten sich fast alle Kinder signifikant. Das Entwicklungsniveau armer wie nicht armer Kinder stieg beispielsweise um 10 bzw. 11 %: von 50 % auf 60 % bei Armutsbetroffenen und von 67 % auf 78 % bei nicht von Armut Betroffenen.
Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt: Die einzige Angabe, die dem positiven Trend nicht entspricht, ist die Abnahme des Entwicklungsniveaus von 73 % auf 72 % bei der Betrachtung der Kinder ohne Migrationshintergrund. Fachkräfte nahmen außerdem eine Einschätzung über die Schulbereitschaft der Kinder vor. 1 entsprach der Aussage „überhaupt nicht bereit“, während 5 volle Zustimmung ausdrückte.
Vereinfacht lässt sich festhalten, dass Ziel- und Vergleichsgruppe in einigen Bereichen nahezu identische Werte erzielten (gesamt: 3,95 vs. 3,94) und die Werte für nicht von Armut betroffene Kinder in der Vergleichsgruppe positiver ausfielen als in der Modellgruppe: 4,76 vs. 4,34 in der Kategorie „Wohlergehen“ sowie 4,54 vs. 4,15 in der Kategorie „nicht arm“. Aufgrund des Erfolgs von ZUSi läuft seit 2022 ZuSi 2.0 nun auch in Herne, Essen und Bochum an jeweils 14 weiteren Kitas.
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Lesen Sie mehr:
37 Grad: Vererbte Armut – Kindheit mit wenig Geld, 27.02.2024:
https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-vererbte-armut-100.html#startTime=835?at_specific=37Grad
Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e. V.: Schwerpunkt Kinderarmut 2019 (mit vielen anschaulichen bis plakativen Beispielen für Armutsbetroffenheit aus der Kita-Praxis):
https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2020/07/armut_kone_AWO.pdf
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e. V.: Wer die Armen sind. Der Paritätische Armutsbericht 2018, Dezember 2018:
https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armutsbericht/doc/2018_armutsbericht.pdf
Evangelische Familienbildung: Familienbildung im Gespräch mit Wissenschaft und Forschung: Armutssensible Arbeit mit Familien (Online-Vortrag von Gerda Holz), 02.12.2021:
https://www.youtube.com/watch?v=XcqYnuxBqnM
Hock, Beate, Holz, Gerda, Kopplow, Marlies: Kinder in Armutslagen – Grundlagen für armutssensibles Handeln in der Kindertagesbetreuung, 2014:
https://www.pedocs.de/volltexte/2024/28540/pdf/Hock_Holz_Kopplow_2014_Kinder.pdf
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (Hrsg.): Armutssensibles Handeln in Kindertageseinrichtungen – Zwischenergebnisse und Impulse aus dem Modellprojekt „Zukunft früh sichern!“:
https://www.iss-ffm.de/fileadmin/assets/veroeffentlichungen/downloads/ZuSi-Armutssensibles_Handeln_in_Kindertageseinrichtungen.pdf
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (Hrsg.): Lebenslagenansatz in Kindertageseinrichtungen – Impulse zur praktischen Anwendung:
https://www.rag-stiftung.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Lehrmaterialien_fuer_Kita_und_Schule/Handreichung_Lebenslagenansatz-in-Kindertageseinrichtungen.pdf
Keßel, Peter: Was bedeutet armutssensibles Handeln?, 24.02.2020:
https://www.nifbe.de/component/themensammlung?view=item&id=903:was-bedeutet-armutssensibles-handeln
Kieler Netzwerk gegen Kinderarmut: Ursachen und Folgen von Kinderarmut:
https://www.kieler-gegen-kinderarmut.de/kinderarmut-informationen/ursachen-und-folgen-von-kinderarmut/
Meine Kita – Das didacta Magazin für die frühe Bildung, Ausgabe 4/2022:
https://www.yumpu.com/de/document/read/67348541/meine-kita-04-22
Poppe, Sabine: Armut und armutssensibles Handeln in der Kita, 2019:
https://www.nifbe.de/images/nifbe/Aktuelles_Global/2019/Armut_online.pdf
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1171/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-in-europa/
SWR Doku: Machen Kinder arm? Was es kostet, ein Kind zu haben | SWR Doku, 17.06.2022:
https://www.youtube.com/watch?v=bCRrRaz-CGs
WDR Doku: Dominik und die Suche nach der verlorenen Kindheit | WDR Doku, 11.07.2023 (interessant auch unter dem Aspekt, wie sich Armut in Deutschland innerhalb der letzten Jahrzehnte verändert hat – und wie wenig Staat und System dagegen tun):
https://www.youtube.com/watch?v=I2nbns4NDYI
WDR Doku: Kinderarmut: Das große Versagen der Politik | WDR Doku, 21.09.2021 (sehenswert!):
https://www.youtube.com/watch?v=kEDfesPrx1k
Webseite des Projekts „ZUSi – Zukunft früh sichern 2.0“ (inklusive einer Evaluation des ersten ZUSi-Projekts):
https://zusi.plattform-spi.de/goto.php?target=cat_134148&client_id=inno
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