Am Anfang ist das Staunen: Philosophieren mit Kindern
Christine Hagemann
Grundschulkinder sollen philosophieren lernen? Was manchen Eltern völlig abwegig erscheint, ist an vielen Grundschulen längst gängige Praxis. Und das hat gute Gründe.
© Robert Kneschke, Adobestock.com
Was hat Philosophie in der Grundschule zu suchen? Das ist die erste Frage von Eltern. Kinder fragen viel, aber ist Philosophieren nicht viel zu schwierig für sie? Ganz und gar nicht, Kinder sind geborene Philosophen. Sie möchten die Welt verstehen, sind offen für alles Neue und wollen den Dingen auf den Grund gehen – eine urphilosophische Haltung.
Viele Grundschulen haben das Philosophieren mit Kindern als didaktisches Prinzip in den Unterricht integriert. Mit erstaunlichen Erfolgen für die gesamte Schullaufbahn, wie neuere Modellversuche bestätigen. Lesen Sie im Folgenden, was dieses besondere Konzept auszeichnet und wie Sie mit Ihren Kindern fruchtbare philosophische Gespräche führen.
Inhalt
1. Was ist Philosophieren mit Kindern?
1.1 Warum sollten Kinder philosophieren?
1.2 Welches didaktische Konzept steht dahinter?
2. Was bringt Philosophieren in der Grundschule?
2.1 Philosophieren als Unterrichtsprinzip
2.2 Welche Voraussetzungen bringen Kinder mit?
3. So gelingen philosophische Gespräche mit Kindern
3.1 Der philosophische Werkzeugkasten
3.2 Die 5 methodischen Grundbausteine
Was bringt Philosophieren in der Grundschule?
Der Sinn philosophischer Gespräche ist, Nachdenklichkeit anzuregen, die sich auf die Lebenswelt der Kinder und die konkreten Inhalte des Unterrichts richtet. Solche Nachdenkgespräche lassen sich nicht nur im Ethikunterricht, sondern in jedem beliebigen Fach einsetzen.
Philosophieren als Unterrichtsprinzip
Durch das Philosophieren werden keine neuen Inhalte eingeführt, sondern es geht um neue Zugänge zu den Gegenständen des Unterrichts. Der Wissenserwerb wird verbunden mit Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt, die offen sind für verschiedene Sichtweisen und Deutungen.
Philosophieren trägt zur Vernetzung von Wissen bei:
- Durch das Philosophieren können fachliche Unterrichtsziele erreicht werden. Es vertieft die Vorstellungswelt der Kinder und hilft ihnen, Zusammenhänge herzustellen.
- Philosophische Gespräche fördern das Wissenschaftsverständnis. Bereits im Grundschulalter muss eine wissenschaftliche Grundbildung angebahnt werden, die für das Leben in der Informationsgesellschaft erforderlich ist.
- In allen Fächern können die Kinder neue Fragestellungen, die eigenständige Beurteilungen erfordern, als eine für sie lösbare Aufgabe ansehen.
Besonderen Wert hat das gemeinsame Nachdenken, da Sinn sich oft im Gedankenaustausch besser erschließt. Es entstehen breitere Erkenntnisse, die oft noch tiefere Gedanken zur Folge haben. Die Schülerinnen und Schüler (SuS) erleben Bildung als gemeinsamen Prozess in einem zensurfreien Raum.
Philosophieren fördert wichtige Schlüsselkompetenzen:
- Begriffsbildung
- Dialoghandeln
- Deutungskompetenz
- Urteilsbildung
Das Philosophieren in der Gruppe bietet Chancen, die Gesprächsbereitschaft der Kinder zu fördern. Die Lehrkraft kann besonders ruhige oder besonders auffällige Kinder besser einschätzen. Modellversuche zeigen deutlich positive Veränderungen:
- Die Kinder werden allgemein neugieriger und hinterfragen mehr. Sie äußern öfter eigene Standpunkte und können diese selbstbewusster begründen.
- Verhaltensauffällige Kinder bringen sich stärker ein und arbeiten konstruktiver mit.
- Die Aufmerksamkeitsspannen verlängern sich. Kinder mit Lernstörungen bringen sich überraschend intensiv ein.
- Die Gesprächskultur wirkt sich auch auf andere Fächer aus. Die Kinder bringen den Gedanken ihrer Mitschüler mehr Wertschätzung entgegen und nehmen inhaltlich aufeinander Bezug.
Welche Voraussetzungen bringen Kinder mit?
Alle Wissenschaft hat ihren Ursprung in der natürlichen Philosophie. Die Philosophen der Antike wollten die Welt verstehen, indem sie selbst darüber nachdachten. Auch Kinder denken über die Welt und das Leben nach. Und sie machen sich spontan eigene Gedanken. Ihre Fantasie, mit der sie sich Unbekanntes erklären, ist dabei grenzenlos, alles ist möglich.
Aus evolutionärer Sicht ist es für Menschen lebensnotwendig, die Welt zu verstehen, um in ihr zu bestehen. Daher ist uns die Neugier angeboren und macht Vergnügen. Das Staunen über Phänomene der Umwelt inspiriert Kinder zum Nachfragen und Fabulieren. Gerade dieses naive Staunen, mit dem alle philosophischen Gedanken anfangen, geht Erwachsenen oft verloren. Kinder haben eine natürliche Haltung des Wissen-Wollens und der Offenheit, was ihre Fähigkeit zum Philosophieren auszeichnet.
So gelingen philosophische Gespräche mit Kindern
Philosophische Gespräche im Unterricht müssen zwar vorbereitet werden, aber die eigentliche Kunst liegt in der Gesprächsführung. Wichtig ist, dass Sie als Lehrkraft die scheinbare Überlegenheit gegenüber dem Kind aufgeben und sich selbst auf das Unbekannte einlassen. Moderieren Sie das Gespräch und regen Sie durch gezielte Impulse Nachdenklichkeit an, ohne eine bestimmte Richtung vorzugeben oder Ihre eigene Meinung einzubringen.
Diese Aufgaben haben Sie im philosophischen Gespräch:
- Gedankenaustausch anregen, ohne inhaltlich Stellung zu beziehen
- Impulse geben, die auf das Reflexionsvermögen der Kinder abzielen
- im Gesprächsverlauf auf die Klärung der Gesprächsbeiträge hinwirken
- der eigenständigen kindlichen Denktätigkeit Raum und Zeit bieten
Mit der Offenheit des Gesprächs müssen die SuS erst umgehen lernen. Da es im Schulalltag selten Gelegenheiten zum ausführlichen gemeinsamen Nachdenken gibt, sind die Kinder es nicht gewohnt ihre Standpunkte zu vertreten, ohne schulischen Maßstäben gerecht werden zu müssen. Vielen fällt es schwer, authentische Gesprächsbeiträge zu liefern.
Um die Schüler zu eigenen Erklärungsversuchen zu ermutigen, eignen sich Rückfragen wie diese: Was stellst du dir vor? Hast du eine Erklärung? Was meinst du dazu? Auch wenn die Lehrperson zu Beginn noch stärker leitet, werden die Kinder so miteinander ins Gespräch kommen. Dabei heißt es immer: Beim Philosophieren gilt es zu wandern und nicht, um die Wette zu rennen.
„Man sollte keine Angst vor der Leere haben: genau dort agiert der Gedanke.“
Oscar Brenifier, Philosoph
Der philosophische Werkzeugkasten
Philosophieren mit Kindern entspricht der induktiven Forschung: Beobachtungen regen zu Fragen an, die anschließend reflektiert werden, um Erkenntniszuwachs zu erlangen. Didaktisch empfiehlt sich das von Ekkehard Martens entwickelte Modell: Die SuS erlernen Strategien, mit denen sie einen Sachverhalt untersuchen. Dazu eignen sie sich fünf philosophische Methoden an.
Beim Erforschen gehen Philosophen methodisch vor:
- phänomenologisch
- hermeneutisch
- analytisch
- dialektisch
- spekulativ
Zunächst sollten die Kinder mit dem Sinn des Philosophierens vertraut werden. Um der Wahrheit gemeinsam näher zu kommen, gibt es eben nicht nur die Antwort, sondern die eigene Erkenntnis oder einen Gruppenkonsens. Zum Einstieg in ein Thema eignet sich das Blitzlicht, bei dem jedes Kind äußert, was ihm gerade durch den Kopf geht.
Die 5 methodischen Grundbausteine
Die fünf Methoden gehören zusammen. Wenden Sie sie im lebendigen Gespräch je nach Situation mit unterschiedlicher Gewichtung an. Die folgende Übersicht enthält praktische Ideen für den Unterricht.
- Phänomenologische Methode: hinschauen, beschreiben, unterscheiden
Die Kinder erfassen das Konkrete, ohne es zu bewerten. Verstärken Sie die Wahrnehmung durch die Detektiv-Lupe: Die Kinder schneiden ein Loch in eine Pappe, durch dieses Guckloch betrachten sie den Gegenstand genau und sagen, was sie sehen. In der Ethik steht dafür der Begriff der Achtsamkeit. Regen Sie die Kinder an, genau zu beobachten, wie eine Person sich verhält, wenn sie z. B. wütend oder traurig ist.
- Hermeneutische Methode: sich hineinversetzen, verstehen
Die Kinder teilen mit, wie sie die im Text enthaltenen Gedanken verstehen. Regen Sie die Kinder an, selbst Fragen zu stellen: Was interessiert uns an der Geschichte? Wo gibt es ein Problem, das gelöst werden muss? Um die Perspektivübernahme anzuregen, eignet sich die Situative Rollenbefragung. In Kleingruppen spielen Sie diese Methode auch als Texttheater, wobei jedes Kind sich aus der Geschichte einen Gedanken aussucht, den es wichtig findet.
- Analytische Methode: zerlegen, erklären
Diese Methode setzt sich aus Begriffsklärung und Argumentation zusammen. Zur Klärung eines schwierigen Begriffs schreiben die Kinder Wörter oder Symbole, durch die der Begriff näher bestimmt wird, auf Zettel und ordnen sie anschließend nach ihrer Wichtigkeit. Dies lässt sich gut mit dem Begriffsmobile umsetzen. Ermutigen Sie die Kinder im Gespräch immer wieder dazu, ihre Meinung durch Argumente zu begründen.
- Dialektische Methode: dafür- und dagegensprechen, abwägen
Um von der bloßen Meinung zu überprüfbarem Wissen zu gelangen, erfassen Sie durch gemeinsame Reflexion das Wesentliche, bis sich klare Vorstellungen entwickeln. Dazu passt der Sokratische Dialog: Der Gesprächspartner geht zunächst auf die Ansichten des Sprechenden ein. Dann versucht er durch Kreuz- und Querfragen, dessen Behauptungen auseinanderzunehmen, wobei Widersprüche sichtbar werden. Das Ziel besteht darin, vorgefasste Meinungen zu irritieren und neue Aspekte in den Reflexionsprozess einzubeziehen.
- Spekulative Methode: erfinden, entdecken
In Gedankenexperimenten kombinieren die Kinder ihre Ideen und Erfahrungen zu neuen Gedanken. So erzeugen sie alternative Sichtweise auf die Welt. Mit Was-wäre-wenn-Fragen animieren Sie die Kinder, ihre Fantasie frei spielen zu lassen. Um alle SuS zu beteiligen, können sie eine Idee als Gedankenkette weiterentwickeln. In Fantasiereisen entfalten sie utopische Vorstellungen, wie die Welt sein könnte oder sein sollte.
Fazit: Philosophieren heißt selbst denken
Bereits die philosophischen Schulen der Antike sahen den Zweck des Philosophierens darin, Jugendliche zu verantwortungsbewussten, freien mündigen Bürgern auszubilden. Die Philosophie löste die mythologische Welterklärung ab. Und die Philosophen der Aufklärung im 18. Jahrhundert setzten bei ihrer Suche nach Wahrheit einzig auf die Vernunft. So forderte Immanuel Kant zum Selbstdenken auf: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Diese Bildungsziele haben unsere heutige Gesellschaft geprägt, in allen Bereichen von Wissenschaft, Politik und Bildung. Aber was passiert im Alltag? Mythische Welterklärungen scheinen wieder auf dem Vormarsch. Im Internet grassieren Verschwörungsideologien, in Sozialen Netzwerken finden Hetze und Herabwürdigungen, aufgeladen mit Hassrede und Fakenews, massenhaft Zuspruch. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, hilft nur Bildung durch Aufklärung.
Den kritischen Geist wecken – eine wichtige Aufgabe der Schule. Im gesellschaftlichen und privaten Leben, für den fairen Diskurs und die Demokratiebildung ist Philosophieren unerlässlich. Als interkulturelles Lernen kann es Brücken bauen, da die Schüler pauschale Vorurteile und Konventionen hinterfragen. Als Orientierung im Denken beflügelt es das lebenslange Lernen. Denn Philosophen hören mit ihren Fragen nie auf.
zum Weiterlesen:
Barbara Brüning: Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Berlin: Lit 2014.
Eva Marsal u. a. (Hrsg.): Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter. Konzepte des Philosophierens mit Kindern. Bern: Peter Lang 2007.
Ekkehard Martens: Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart: Reclam 1999.
Kerstin Michalik, Helmut Schreier: Wie wäre es, einen Frosch zu küssen? Philosophieren im Grundschulunterricht. Braunschweig: Westermann 2006.
Hans-Bernhard Petermann: Kann ein Hering ertrinken? Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim: Belz 2007.
Christophe Rude: Philosophieren als Bildungsprinzip. Über den Wert des Philosophierens in Kindertageseinrichtungen und Schulen. In: Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.): Philosophie – eine Schule der Freiheit. Philosophieren mit Kindern weltweit und in Deutschland. Rheinbach 2008.
© Copyright – Urheberrechtshinweis
Alle Inhalte auf www.backwinkel.de sowie www.backwinkel.de/blog, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken, sind urheberrechtlich geschützt.
Das Urheberrecht liegt, soweit nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet, bei der BACKWINKEL GmbH. Bitte fragen Sie uns, falls Sie die Inhalte dieses Internetangebotes verwenden möchten.
Wer gegen das Urheberrecht verstößt (z. B. Bilder oder Texte unerlaubt kopiert), macht sich gem. §§ 106 ff UrhG strafbar, wird zudem kostenpflichtig abgemahnt und muss Schadensersatz leisten (§ 97 UrhG).
Gibts auch ein Gesicht hinter dem BACKWINKEL-Blog? Ja. Vier ?. Drei davon sogar mit Foto.
Wir – Lukas, Tatjana, Stefan und Christine – bespielen unseren Blog unter dem Motto LACHEN LESEN LERNEN.
Lukas kennt sich online so gut aus wie in seiner Westentasche und findet immer spannende Themen, während Stefan unseren Beiträgen den passenden gestalterischen Rahmen gibt und Tatjana mit dem grünen Korrekturstift alles prüfend beäugt, was unsere Autorin Christine (und gern auch Gastautoren) für den BACKWINKEL-Blog nach ordentlicher Recherche schreibt.
Gemeinsam suchen wir ständig nach neuen, aufregenden Themen rund um das Thema Bildung im Kiga, der Schule und zu Hause. Und weil Sie da an der Quelle sitzen, freuen wir uns auf Ihre konstruktiven Rückmeldungen und Anregungen an blog@backwinkel.de
Viel Spaß beim LACHEN LESEN LERNEN!