Schüchternheit vs. mündliche Beteiligung – wie gerecht ist es, den Charakter zu benoten?
Elisa Morel
Lesen, Schreiben, Rechnen lernen wir normalerweise erst in der Grundschule. Sprechen können wir schon vorher. Doch genau daran hapert es bei einigen Schülerinnen und Schülern, sobald sie vor Publikum sprechen sollen oder sich im Mittelpunkt fühlen. Dabei wissen sie die Antworten oft, können sie jedoch nicht verbal äußern.
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Lesen Sie in diesem Beitrag, welche Gründe sich hinter dem Verhalten stiller Kinder verbergen können und wie sie ihnen am besten dabei helfen können, sich besser und weniger gestresst zu fühlen.
Inhalt
1. Mündliche Beteiligung in der Grundschule
2. Schüchternheit in der Grundschule
2.1. Merkmale von Schüchternheit
2.2. Wann Schüchternheit und Unsicherheit bedenklich werden
Schüchternheit in der Grundschule
Viele Kinder sind schüchtern. Bei manchen ist es nur eine Phase, bei manchen wächst es sich aus, einige bleiben auch im Jugend- und Erwachsenenalter eher zurückhaltend und ändern sich erst später oder auch nie – und dann ist das eben so.
Kinder sind noch in der Entwicklung und gerade nach dem Übergang vom Kindergarten in die Grundschule stehen eine Menge Veränderungen an, die Angst machen können: neue Gesichter, neue Räumlichkeiten, Unterricht und Schulfächer, Hausaufgaben, ganz neue Anforderungen wie das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen, Arbeiten, Tests und Zeugnisse. Das kann auch Kinder einschüchtern, die zuvor eher selbstbewusst und extrovertiert schienen oder waren.
Allgemein brauchen Kinder Zeit, um sich an die neuen Umstände und Herausforderungen zu gewöhnen. Wenn ein Kind von sich aus schon eher introvertiert ist, braucht es dementsprechend länger.
Merkmale von Schüchternheit
Laut Dr. Georg Stöckli umfasst Schüchternheit drei Symptome:
- körperliche Reaktionen wie Rotwerden, Herzklopfen, Schwitzen
- kognitive Symptome wie negative Selbsteinschätzung oder Selbstablehnung
- soziale Aspekte wie Gehemmtheit oder Zurückgezogenheit
Schüchternheit ist laut Stöckli Ausdruck eines Temperaments und somit keine psychische Störung. Schüchternen Kindern fällt es schwerer, Kontakte zu knüpfen und sich unbekannten Situationen zu stellen, da sie Angst vor Zurückweisung oder einer negativen Beurteilung haben. Das ist i. d. R. ihrem negativen Selbstbild geschuldet.
Auch Zahlen zum Thema Schüchternheit hat Stöckli:
- im Kindergarten sei ein Drittel der Kinder „auffällig schüchtern“
- in der Grundschule sinke der Anteil auf 16 %
- die Hälfte der schüchternen Grundschüler bleibe auch danach gehemmt und zurückhaltend
Schüchternheit gilt als vererbbar. Natürlich spielt die Erziehung ebenfalls eine Rolle. Schüchterne Eltern haben z. B. oft eine Tendenz zum Überbehüten. Damit verstärken sie die Zweifel und Hemmungen ihres Nachwuchses.
Generell haben schüchterne Menschen eine niedrigere Reizschwelle, sind also schneller überfordert oder verängstigt und ziehen sich daher eher zurück als extrovertiertere Personen. Dafür handeln schüchterne Menschen strukturierter und ruhen mehr in sich selbst. Gleichzeitig gelten sie oft als empathisch und gute Beobachter.
Wann Schüchternheit und Unsicherheit bedenklich werden
Ist bei einem Kind das Vermeidungsverhalten stärker ausgeprägt als sein Annäherungsverhalten, gilt es laut Stöckli als „zu schüchtern“. Viele schüchterne oder stille Kinder freuen sich über Kontakt, zwischenmenschliche Beziehungen, Lob oder Erfolge und überwinden daher ihre Zurückhaltung, wenn man ihnen die richtigen Brücken baut.
Wenn Kinder allerdings nicht lernen, ihre Hemmungen (gelegentlich) zu überwinden, machen sie nicht die Erfahrung, dass sie neue Situationen bewältigen und sich in ihnen zurechtfinden können. Im ungünstigsten Fall resultiert das in sozialen Ängsten, die oft in der Pubertät auftreten.
Haben Sie also bei einem Kind das Gefühl, dass all Ihre behutsamen Versuche, es aus der Reserve zu locken, nicht fruchten, oder ist ein hoher Leidensdruck des Kindes aufgrund seines Verhaltens erkennbar, sollten Sie weitere Maßnahmen in Erwägung ziehen:
- Tauschen Sie sich mit Kollegen über Ihren Eindruck aus.
- Halten Sie Rücksprache mit den Eltern: Wie verhält sich das Kind innerhalb der Familie?
- Ziehen Sie Experten wie z. B. den Schulpsychologen zurate.
Tipps im Umgang mit stillen Kindern
Anmerkung: Aufgrund meiner eigenen subjektiven Erfahrungen halte ich nichts von einigen herkömmlichen Tipps „gegen“ Schüchternheit bei Kindern, wie z. B. das Aufrufen im Unterricht, obwohl sich das Kind nicht meldet, oder das Drängen zu mehr sozialer Interaktion in Form von Vereinsaktivitäten (s. Artikel aus der Süddeutschen Zeitung am Ende des Beitrags). Daher zielen diese Tipps nicht auf eine Verhaltensänderung seitens der schüchternen Kinder ab, sondern plädieren vielmehr für einen verständnisvollen Umgang mit stille(re)n Kindern und damit verbunden weniger Stress und ein bisschen mehr Sicherheit, Toleranz und Gerechtigkeit für selbige.
- Hinterfragen Sie die Gründe
Stille Kinder scheuen oft vor allem das Plenum, das Machen potenzieller Fehler und das Unbekannte. Wenn sie Vertrauen zu Ihnen als Lehrkraft haben, werden sie sich wahrscheinlich öffnen und mitteilen. Sorgen Sie aber dafür, dass das Gespräch unbemerkt von anderen Kindern stattfindet – für stille Kinder ist Auffallen in jeder Form ein Gräuel. Und durch den Hinweis vor der gesamten Klasse „Bleib bitte in der Pause mal bei mir“ stempeln Sie sie zum bunten Hund. („Klassenkameraden werden jetzt bestimmt fragen, was los war, was soll ich da sagen, oh Gott, wie peinlich, heute ist der schlimmste Tag meines Lebens!“)
Manchmal ist der Grund für Zurückhaltung im Unterricht weder Introvertiertheit noch Schüchternheit. Vielleicht sind die Kinder einfach müde, weil sie zu Hause aus welchen Gründen auch immer nicht zur Ruhe kommen. Vielleicht sind sie traurig oder belastet. Vielleicht werden sie gemobbt und ziehen sich deshalb vollkommen zurück. Vielleicht liegt eine (nicht diagnostizierte) Lernschwäche vor, die dem Kind Schwierigkeiten bereitet und für die es sich schämt. Vielleicht sind die SuS aber auch unter- oder überfordert – oder es ist etwas ganz anderes, oder eine Kombination aus verschiedenen Faktoren. Doch das können Sie nur wissen, wenn Sie den Kontakt suchen – mit dem Kind, und vielleicht auch mit den Eltern.
Machen Sie Schüchternheit oder Angst dezent zum Unterrichtsthema, z. B. in Form eines Bilderbuchs. So vermitteln Sie dem Klassenverband Verständnis für dieses Phänomen und kommen ins Gespräch. Sprechen Sie natürlich auch hier nicht die Stillen vor allen anderen an und fragen Sie sie nach ihrer Meinung. Wer will, wird sich Ihnen ausführlich in einer schriftlichen (Haus-)Aufgabe mitteilen, sie aber höchstwahrscheinlich nicht vorlesen wollen. Respektieren Sie auch das. Wenn Sie stillen Kindern keine Sicherheit bieten, werden Sie wenig bis nichts von ihnen erfahren.
- Erzwingen Sie nichts
Stille Kinder leiden selbst am meisten. Und niemand muss etwas tun, was ihn stresst, ihm Angst macht – zumal das die Angst verstärkt, statt sie zu mindern. Auch hier hilft ein Gespräch – vielleicht hat das Kind ja Motivation, sich selbst zu überwinden, und freut sich über das Angebot einer Hilfestellung Ihrerseits, z. B. in Form von einer Absprache: „Wollen wir erst mal mit Sachen anfangen, bei denen du nicht darüber nachdenken musst, ob die Antwort richtig ist? Du kannst super vorlesen – magst du dich da demnächst mal melden?“
Ganz schlimm ist natürlich das Vorführen in jeder Form – auch im vermeintlich Guten: „Hört mal, XY hat die Aufgabe super gelöst, genauso solltet ihr das machen!“ Stille Kinder brauchen nicht unbedingt Bestätigung dafür, dass sie etwas verstehen oder gut lösen können. Sie wollen nicht auffallen. Reißen Sie Ihnen also nicht die Tarnkappe weg. Wenn Sie loben wollen, tun Sie es diskret, z. B. mit einem kleinen Satz und einem Smiley unter einer Hausaufgabe oder Klassenarbeit.
- Haben Sie Geduld und Verständnis
Kinder entwickeln sich noch. Wer als Schüler still ist, wächst nicht zwangsläufig zu einem stillen Erwachsenen heran. Und wenn doch – nicht jeder muss eine »Rampensau« sein. Es gibt als Erwachsener genug private und berufliche Nischen, in denen man sich für ein glückliches Leben einrichten kann. Still sein ist nicht besser oder schlechter als extrovertiert zu sein – und erst recht nicht schlimm oder falsch.
Viele stille Kinder denken außerdem länger über ihre Antwort nach und brauchen dementsprechend mehr Zeit, um abzuwägen und ihre (Selbst-)Zweifel zu entkräften – oder eben die Möglichkeit, ihre Gedanken oder Lösungen vorab schriftlich zu formulieren. Überlegen Sie also, inwiefern Sie diesem Bedürfnis entgegenkommen können.
Stellen Sie sich selbst einmal die Frage, welche vergleichbaren Situationen Ihnen vielleicht Unbehagen bereiten: Auch viele Erwachsene finden die Vorstellung, einen Vortrag vor Publikum zu halten, nicht besonders erquicklich – obwohl das Publikum meistens aus halbwegs Fremden besteht, die man nicht wiedersieht, statt aus Klassenkameraden, die einen eventuell sowieso schon auf dem Kieker haben und mit denen man im Zweifel noch die nächsten Jahre verbringen muss.
- Verurteilen Sie nicht
Stillsein ist nicht gleichbedeutend mit Faulheit, Dummheit oder Trotz, und wer wirklich überdurchschnittlich still ist, „kann“ sich auch nicht „einfach überwinden“. Wer unter Arachnophobie leidet, kann sich ja auch nicht „zusammenreißen“ und eine Spinne auf die Hand nehmen – nur dass man Spinnen in unseren Breitengraden in der Regel besser aus dem Weg gehen kann als mündlicher Beteiligung, die leider fester Bestandteil unseres Schulsystems ist.
Gleichzeitig ist extreme Zurückhaltung bei mündlicher Beteiligung für die Kinder selbst mit vielen negativen Faktoren verbunden: Stress, Angst bis hin zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Herzrasen, dem Gefühl, etwas falsch zu machen, nicht zu genügen oder gar zu versagen, unter Beobachtung zu stehen, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, sich zu blamieren. Niemand entscheidet sich also freiwillig für diese Form der Zurückhaltung.
- Bieten Sie Alternativen zur Leistungserbringung an
Da die meisten stillen Kinder nicht auffallen wollen – weder positiv noch negativ – machen sie immer ihre Hausaufgaben, haben immer ihre Materialien dabei, kommen nie zu spät, schwänzen nicht, stören nicht, machen in den Pausen keinen Ärger. Auch das verdient Anerkennung und darf nicht untergehen, nur weil andere Kinder mehr Aufmerksamkeit fordern.
Darüber hinaus haben Sie auch andere Möglichkeiten, ihnen Beteiligung einzuräumen, z. B. in Form von optionalen schriftlichen Aufgaben, die Sie jede Woche an ein Whiteboard schreiben und die jedes Kind erledigen und abgeben kann. So verbreitern Sie nicht nur Ihre Bewertungsgrundlage, sondern können auch überprüfen, inwieweit stille Kinder den Unterrichtsstoff begreifen, auch wenn sie sich mündlich wenig bis gar nicht beteiligen.
Außerdem können Sie stillen Kindern anbieten, einen Vortrag gemeinsam zu proben. So nehmen Sie dem Kind die Angst, etwas Falsches zu sagen oder für Fehler kritisiert zu werden, da Sie den Vortrag vorher schon auf seine Richtigkeit prüfen und ggf. verbessern.
Behalten Sie auch im Kopf, dass Sie einen Beurteilungsspielraum haben.
Tipp: Vielleicht kommen einige Kinder auch durch ein Rollenspiel aus sich heraus, wenn sie nicht „sie selbst“ sein müssen oder sich hinter einer Verkleidung verstecken können. Probieren Sie also aus, ob Ihre stillen Kinder sich davon verlocken lassen, mithilfe des Kasperletheaters oder im Rahmen eines Theaterstücks das Wort zu ergreifen. Zwar ist so auch nicht die von vielen stillen Kindern erwünschte Anonymität erreicht, da die anderen sie noch immer erkennen (im Zweifelsfall eben an der Stimme), aber bei nicht übermäßig schüchternen oder ängstlichen Kindern kann es klappen.
Extra-Tipp: Eine andere Möglichkeit sind kleine Videos, die die Kinder zu Hause drehen und die im Zweifel nur Sie sehen. Vielleicht fällt es einigen Kindern so leichter, etwas zu einem bestimmten Thema vorzutragen. Denn am meisten fürchten sich viele vor der Reaktion der anderen, selbst wenn diese ausbleibt. Bleibt dieser Aspekt außen vor, verlieren einige Kinder ihre Hemmungen vollständig.
Um abschließend noch einmal auf die im Titel gestellte Eingangsfrage zurückzukommen, wie gerecht es ist, den Charakter zu benoten: Meiner Ansicht nach gar nicht!
Kostüm-Set
Kasperletheater
Kamishibai-Erzähltheater
Lesestoff:
„Mündliche Gesprächskompetenz – stille Kinder im Unterricht“, 15.03.2022:
https://beamten-infoportal.de/magazin/beruf/lehrer/muendliche-gespraechskompetenz-stille-kinder-im-unterricht/
Bruckner, Johanna: Zu schüchtern für die Schule, 09.04.2014:
https://www.sueddeutsche.de/bildung/soziale-unsicherheit-bei-kindern-zu-schuechtern-fuer-die-schule-1.1933288
Hartmann, Evelin: Herr Stöckli, wie hilft man schüchternen Kindern?, 08.11.2017:
https://www.fritzundfraenzi.ch/gesundheit/herr-stoeckli-wie-hilft-man-schuechternen-kindern/
Mutmacher gegen Hemmzwerg – Das Sozialtraining SoFiT für schüchterne Schülerinnen und Schüler (Informationen und weiterführende Links inkl. Bestellmöglichkeit zum Training von Prof. Dr. Georg Stöckli):
https://kind-und-schule.ch/sofit
„Schüchternheit bei Kindern: Tipps für einen richtigen Umgang“, 05.10.2021:
https://www.pro-kita.com/padagogik/kindergarten/umgang-schuechterne-kinder/
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